Atomkraftwerk Neckarwestheim II: Umweltschützer fordern sofortige Stilllegung
"Die Büchse der Pandora rostet in der Badewanne"
Deutlich zunehmende Schäden im Bereich der Dampferzeuger (Kühlkreislauf)
Bei der Revision 2019 des Atomkraftwerks Neckarwestheim II (GKN II) wurden zunehmende weitere Schäden im Bereich der Heizrohre in den Dampferzeugern entdeckt. Diese sind absolut sicherheitsrelevant, rasch fortschreitend trotz Gegenmaßnahmen, und hochgefährlich. Die Arbeitsgemeinschaft AtomErbe Neckarwestheim (Bürgerinitiativen und BUND-Regionalverband Heilbronn-Franken) fordert in aller Deutlichkeit die sofortige endgültige Abschaltung des altersschwachen AKWs.
Überblick:
Seit 9.8.2019 läuft in Neckarwestheim (GKN II) die jährliche Revision. Am 2.9.2019 teilten EnBW und Umweltministerium das Auftreten weitere Schäden an den Heizrohren der Dampferzeuger mit. Dieses Schadensbild führte bereits im Herbst 2018 zu einer deutlichen Verlängerung der Revision, Ursachensuche und Planung von Gegenmaßnahmen. „Alles im Griff“ war damals der Tenor der Betreiberseite. Auch der TÜV Nord sprach von einer korrekten Feststellung der Mängel und bestätigte zu den getroffenen Maßnahmen, dass damit die primären Ursachen weitestgehend auszuschließen seien. Einem Weiterbetrieb könne zugestimmt werden (1).
Trotz Umsetzungen steht die EnBW nun jedoch extrem schlecht da. Die Korrosion der Heizrohre hat in gefährlichem und zahlenmäßig belegbarem Umfang zugenommen. In den Rohren fließt das radioaktiv belastet Kühlwasser des Primärkreislaufs. Druck und Temperatur sind sehr hoch. Das mehrere hundert Grad heiße radioaktive Wasser aus dem Reaktorkern durchströmt diese Rohre mit einem Druck von 160 bar und gibt dabei seine Wärme an das die Rohre umfließende Wasser des Sekundärkreislaufs ab, das nur einen Druck von 65 bar aufweist und daher verdampft.
Der Bruch eines einzelnen Rohres ließe sich nach Meinung der Betreiberseite eben noch im Rahmen einer Schnellabschaltung beherrschen. Dies wird von den UmweltschützerInnen deutlich bezweifelt, da es zu verschiedenen Fehlsteuerungen beispielsweise in der Bor-Konzentration des Primärkreislaufes kommen kann. Das gleichzeitige oder ursächlich zusammenhängende Auftreten einer weiteren Störung beispielsweise im Sekundärkreislauf kann zum Verlust jeder Kontrolle über die Situation führen und in der Kernschmelze enden.
Positionen:
S. Mende von der BI AntiAtom Ludwigsburg beschreibt die Situation bildhaft:
„Die Büchse der Pandora rostet in der heißen Badewanne. Die ‘Badewannen-Kurve’ (2) beschreibt die Fehlerwahrscheinlichkeit während der Betriebszeit eines AKWs. Am Anfang sinkt mit der Lernkurve die Gefahr nach Inbetriebnahme des AKWs zunächst, die Erfahrungen sind hilfreich. Das GKN II ist nun aber seit 30 Jahren in Betrieb, es wird alt. Die Fehlerkurve steigt wieder deutlich an.“
Verschleiß, Alterung, unzureichende Kenntnisse dieser Prozesse und Akzeptanz von Kompromissen bei der Wartung mit möglicherweise steigender Nachlässigkeit zum Ende der Betriebsdauer hin? Es ging doch immer alles gut, oder?
„Das ist der Stoff, aus dem Katastrophen gemacht sind.“, meint F. Wagner für die AG AtomErbe Neckarwestheim:
„2018 waren es 101 Rohre, 2019 weitere 191 Rohre. Werden es 2020 dann 382 neue Schäden sein? Mit den Problemen beispielsweise der Notstromdiesel in Philippsburg und den Alterungserscheinungen an den Brandschutzsystemen entstehen viele zusätzliche Risiken in den AKWs.“
Hintergrundinformation:
Die Ursachen der Korrosion an den Rohren aus Spezialstahl konnten offenbar etwas eingegrenzt werden. Schadensmechanismen sind offenbar Lochfraß und Spannungsrisskorrosion. „ Rekordhalter“ war ein Rohr im Jahr 2018, von der ursprünglichen Wandstärke von 1,2 mm waren nur noch papierdünne 0,1 mm intakt. Die am stärksten betroffenen Rohre wurden verschlossen. Bei den Messungen 2019 waren die Wandstärken bei den verbliebenen Rohren teilweise bis auf 30 Prozent Wanddicke reduziert. Schwerpunkt der Korrosionsprozesse sind die Außenseiten der Rohre auf der heißen Zuleitungsseite im ersten Abschnitt. In diesem Bereich am Boden des Dampferzeugers bilden sich offenbar in erheblichem Maß Ablagerungen aus Verunreinigungen des Sekundärkreislaufes. Aus den 4 Dampferzeugern wurden bei der Revision 2018 insgesamt 624 Kilogramm Material freigespült. Diese Menge lässt aufhorchen! Auf Grund der Bauweise ist ein direkter Zugang zu den Rohren nicht möglich, der gesamte Bereich ist radioaktiv belastet. Ein kompletter Austausch eines Dampferzeugers im GKN II wäre nur nach Umbau der Reaktorkuppel möglich.
Aktuelle Kontroverse. Das Risiko klein reden?
Wie gefährlich ist es denn nun? Vom Umweltministerium kommt beschwichtigend die Information, bei diesen Rohren und diesen Schäden trete immer erst ein Leck auf, bevor es zum Bruch des Rohres kommen könne. Das Leck werde sofort auf Grund der übertretenden Radioaktivität im Sekundärkreislauf erkannt. Dies könne gut mit einer Schnellabschaltung beherrscht werden.
Die UmweltschützerInnen entgegnen, dass dies möglicherweise für den Bereich des Lochfraßes an den Rohren zutrifft. Im Bereich der kreisförmigen, quer zur Längsrichtung der Rohre verlaufenden Spannungsrisskorrosion trifft dieses „Leck-vor-Bruch-Verhalten“ jedoch nicht verlässlich zu. Ein langsames Aufreißen eines Rohres ist vor allem an einem Längsriss denkbar. Quer sieht es aber anders aus. Die Organisation .ausgestrahlt recherchierte zu den Hintergründen und konnte am 11.9.2019 darlegen, dass Dampferzeuger-Heizrohre bei umlaufenden zirkulären Rissen auch sofort brechen können ohne Lecks als Vorwarnung. .ausgestrahlt beruft sich hierbei auf Versuche der Materialprüfungsanstalt Stuttgart 2013 im Auftrag des Bundesumweltministeriums (3). Beispielhaft wird auch ein aufgetretener Schaden im südkoreanischen AKW Hanul-4 genannt, der jedoch zum Glück nicht zur Katastrophe führte, da der Reaktor zum betreffenden Zeitpunkt bereits für einen Brennelementewechsel heruntergefahren war. Auch hier brach das Heizrohr ohne vorheriges Leck.
Fazit:
.ausgestrahlt weist darauf hin, dass nach dem Kerntechnischen Regelwerk ein Reaktor nur betrieben werden darf, wenn der Bruch von Heizrohren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Dieser Nachweis ist im AKW Neckarwestheim II nicht zu erbringen. Umweltminister Untersteller muss dem Reaktor im Interesse der Bevölkerung die Wiederanfahrgenehmigung verweigern.
Hierzu S. Mende von der BI AntiAtom Ludwigsburg: „Unter ethischen Gesichtspunkten darf eine solche Entscheidung nicht von Gremien getroffen werden, die starken Eigeninteressen unterliegen. Wegen der Besitzverhältnisse der EnBW trifft dies auch auf die Landesregierung zu. Auf der einen Seite der Waagschale liegen Millionengewinne der EnBW, auf der anderen Seite aber Gesundheit, Leben und finanzielle Schäden der Allgemeinheit in einer Höhe bis zu mehreren Billionen Euro. Wir brauchen eine entsprechende Ethikkommission für diese Entscheidung.“ Auch eine strikte Orientierung am Vorsorgeprinzip ist erforderlich.
Die Mitglieder der AG AtomErbe Neckarwestheim fordern:
„Keine Wiederanfahrgenehmigung, sondern
sofortige und endgültige Abschaltung des AKWs Neckarwestheim II.“
Quellen:
(1) Zusammenfassender Bericht des Umweltministeriums zum Meldepflichtigen Ereignis GKN II ME 04/2018 - „Lineare Anzeigen bei Wirbelstromprüfung von Dampferzeugerheizrohren“
(Stand: November 2018) Seite 12, Punkt 7
https://um.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-um/intern/Dateien/Dokumente/3_Umwelt/Kernenergie/Berichte/Anlagen/GKN/Aufarbeitung_ME-04-2018/GKNII_Bericht_des_UM_zum_ME-042018.pdf
(2) Badewannenkurve, Ausfallverteilung
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausfallverteilung
(3) MPA Stuttgart, BMU-Vorhaben 3610R01385, Schädigungsmechanische Modellierung des Resttragvermögens von geschädigten Dampferzeugerheizrohren, Abschlussbericht Juli 2013, Seite 82, Punkt 4
https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_3610_r_01385_dampferzeugerheizrohr_bf.pdf